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2050

Spendenanthologie zugunsten von „Zeichen gegen Mobbing e. V.“

Flare
Anne Polifka

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Milo achtete nicht auf die Musik, die aus dem Autoradio drang. Er wandte seine Aufmerksamkeit dem Hologramm zu, das seine Smartwatch vor ihm projizierte. Zuerst öffnete er Notice-You. Sein Selfie von heute Morgen hatte fast neunzig Likes und zwölf Kommentare erhalten. Nicht so viele, wie er erhofft hatte. Aber knapp zweihundert Freunde hatten ihm bisher zum Geburtstag gratuliert. Die Musik verstummte, der Radiosprecher wurde lauter.
          »Liebe Zuhörer, dies ist eine Information an alle Halter eines autonomen Fahrzeuges. Diese werden durch die Hersteller von 19 bis 21 Uhr außer Betrieb genommen, sind jedoch manuell bedienbar. Grund hierfür ist ein Sonnensturm, der das GPS-Signal stören kann. Und nun …« Milo schaltete das Radio aus und strich sich mit der Hand übers Gesicht. Na super, ausgerechnet heute fand seine Geburtstagsparty im Cybernight statt. Beginn um acht. 
          Im Takt der Regentropfen auf dem Autodach tippte er auf sein Bein und sah hinaus. Er nahm von dem Treiben der Stadt wenig wahr. Sollte er absagen? Doch er hatte fast 70 Leute eingeladen. Den dreißigsten Geburtstag feierte er auch nur einmal. Die Anzahl der Gäste, die erschienen, sank jedes Jahr. Viele Freunde und Bekannte gründeten eine Familie und dann fehlte die Zeit zum Feiern. Alessia hatte sich ebenfalls Babypläne in den Kopf gesetzt, obwohl Milo warten wollte, mindestens, bis er vierzig sein würde. Heute war selbst fünfzig bei Frauen kein Problem mehr für Schwangerschaften. Sicher, auch er wollte ein Kind, später. Warum sollten sie die Familienplanung überstürzen? Allerdings würde seine Freundin nicht so lange warten. Sie plante schon jetzt alles und hatte einen Namen, die Farbe des Kinderzimmers, sogar einen Kindergarten und eine Schule ausgewählt. Sie benahm sich, als wäre sie bereits schwanger. 
           Mit Kind würde es auch für ihn vorbei sein mit großen Geburtstagspartys. Davon abgesehen hatte er den DJ und die Raummiete schon angezahlt … Die Party würde stattfinden! Milo würde das Fahrrad nutzen, denn einen Führerschein besaß er nicht. Er hatte gedacht, bei einem selbstfahrenden Auto würde er niemals in die Situation geraten, eine Fahrerlaubnis zu benötigen. Ein zweiwöchiger Crashkurs, um notfalls an den Rand fahren und bremsen zu können; das war’s. Selbst wenn er wollen würde, könnte er das Auto manuell nicht nutzen. Die Fahrerlaubnis wurde auf dem Mikrochip in der Hand gespeichert. Erkannte das System keinen Führerschein auf den Namen des Besitzers, bewegte sich der Wagen nicht einen Millimeter.
          »Libra, berechne die Route von zu Hause zum Cybernight-Club per Rad.« 
          Einige Sekunden vergingen, bis eine Frauenstimme aus den Lautsprechern klang.
          »Die Fahrzeit beträgt 42 Minuten. Auf den Radwegen ist am Abend mit erhöhtem Verkehrsaufkommen zu rechnen.« 
          Milo entwich ein Seufzen. Dieser Sonnensturm hätte die ganze Zeit kommen können, aber doch nicht heute. Ein kurzer, piepender Signalton verkündete, dass sich die Fahrt dem Ende neigte.
          »Sie haben Ihr Ziel erreicht. Es befindet sich auf der rechten Seite.« Die Autotür öffnete sich. Milo stieg aus und kaum, dass er sein Auto verlassen hatte, fuhr es selbstständig in die Garage. Er hatte keinen Schirm dabei und so rannte er los durch den Vorgarten zu seinem kubischen Haus. Die Tür schwang automatisch auf.
          »Willkommen zu Hause, Milo«, begrüßte ihn die elektronische Frauenstimme. Nachdem sie die Türanlage eingebaut hatten, war es anfangs befremdlich gewesen, dass die Tür automatisch öffnete und ihn begrüßte. Nun genoss er es, dass er nicht mehr nach dem Schlüssel suchen musste. Er brauchte überhaupt keinen. Der Schlüsselbund, der neben der Tür hing, war nur Nostalgie.
          Er zog seine Schuhe aus, indem er einfach auf die Fersen trat, was Alessia jedes Mal in den Wahnsinn trieb. Immer wieder betonte sie, dadurch würden die Schuhe schneller kaputtgehen. Dann kaufte er sich halt neue.
          Vom Flur schlenderte er in die Küche und füllte Orangensaft in ein Glas. Er schaltete den Food-Drucker ein und verzog sich ins Wohnzimmer.
          »TV starten«, sagte Milo und fläzte sich aufs Sofa. Alessia war nicht da, also legte er seine Füße auf dem Couchtisch ab. Für seine Freundin war das ein No-Go, weshalb er auf diese Bequemlichkeit verzichtete, wenn sie zu Hause war. Während der Food-Drucker das Essen druckte, würde er entspannen. Die Arbeit war anstrengend gewesen. Gerade die Älteren sträubten sich gegen die VR-Helme, die eine virtuelle Realität erschufen, in der der Verkaufsraum täuschend echt wirkte. Selbst Gerüche und haptisches Feedback wurden simuliert. So konnte er bequem vom Sofa aus arbeiten, falls die Kunden einen VR-Helm besaßen. Heutzutage hatte jeder so einen, außer den Sturköpfen, die meinten, früher war es auch ohne gegangen. Er hasste es, wenn er persönlich zu den Kunden für ein Beratungsgespräch fahren musste. Eine halbe Stunde Fahrt für nichts! Seine potenziellen Kunden wollten die IT-Versicherung doch nicht abschließen. Seine Provisionsrate war diesen Monat bisher unterdurchschnittlich.
          »… und durch das Freisetzen dieser Teilchen beim koronalen Massenauswurf, kurz CME, wird das Magnetfeld der Erde geschwächt …« Eine Simulation veranschaulichte, wie die Sonnenstürme entstanden. Eine Originalaufnahme einer Sonneneruption wurde gezeigt, beschriftet mit »Flare«. Wieder erschien die Grafik, auf der Pfeile von der Sonne auf die Erde zuflogen.
          »Weiter«, befahl Milo. Der Sender änderte sich, doch sowohl beim nächsten als auch bei den folgenden Kanälen war dies Thema Nummer eins.
          »1859 war der letzte Mega-Sonnensturm. Bekannt ist er als das Carrington-Ereignis. Polarlichter machten Europa in der Nacht taghell und unzählige Telegrafenleitungen schmorten durch. In der heutigen Zeit wäre ein derartiger Vorfall verheerend. Doch die Forscher geben Entwarnung. Damit solch ein Megasturm entstehen kann, braucht es zwei Eruptionen in kurzen Abständen. Die Bilder der Sonden Solar Orbiter, Parker Solar Probe und Solar Discovery registrierten nur die Vorzeichen eines einzigen CME. In Deutschland werden selbst bei einem schwächeren Massenauswurf Polarlichter zu sehen sein. Zum Abend hin klart der Himmel vielerorts auf und ermöglicht einen einmaligen Anbl…« 
          Milos Uhr vibrierte. Er entsperrte sie und eine holografische Videobotschaft mit Jonas Gesicht erschien.
          »Hey, Kumpel. Tut mir leid, aber ich kann heute nicht kommen. Das Auto fährt nicht und die Taxis auch nicht. Wir holen das nach.« Das Hologramm verschwand, um Alessias Nachricht Platz zu machen.
          »Hi, Schatz. Ich komme nicht nochmal nach Hause, sondern laufe direkt von Valerie zum Club. Wir sehen uns dort.« Sie gab ihm einen Luftkuss. 
          Ein leises Surren ertönte, als eine Drohne seinen Burger zu ihm flog. Im TV erzählten sie immer noch vom Sonnensturm.
          »Starte StreamX«, sagte er. Wenn Alessia nicht nach Hause kam, konnte er eine Folge Eden schauen, bevor er sich auf den Weg machen würde.
          Es wurde langsam dunkel, als er das Haus verließ. Er holte sein Fahrrad, das er viel zu lange nicht mehr genutzt hatte, aus der Garage. Bevor er losfuhr, steckte er sich die kleinen Kopfhörer ins Ohr und startete die Musik auf seinem Smartphone. Er stieg auf und begann zu strampeln. Da er die Party nicht durchgeschwitzt eröffnen wollte, stellte er den Automatikmodus auf unterste Stufe ein. Sobald der Widerstand beim Treten stärker wurde, glich der elektrische Antrieb das aus.

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Seiten: 384

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