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Sirona

überarbeitete Kurzgeschichte

Wissenschaftsoffizier Alexander Liebers, der mittlerweile schon seit sechs Monaten in 400 Kilometern Höhe um die Erde kreiste, blickte nach draußen, wo er die Silhouette der neu angedockten Raumkapsel sah. Die Solarpaneele schimmerten in der aufgehenden Sonne. Der Anblick war beeindruckend: das Zusammenspiel von der endlosen Dunkelheit des Alls, der Spiegelung des Sonnenlichts und die Aussicht auf die wolkenlose Erde darunter. Zu jedem anderen Zeitpunkt würde er dieses Motiv auf einem Foto festhalten, doch jetzt wirkte es wie ein schlechter Witz auf seine Kosten. 
          Vor vier Tagen hätten sie mit einer identischen Dragon-Kapsel im Atlantik landen sollen und er könnte somit Weihnachten bei seiner Familie verbringen – heute zeigte der Kalender den 24.12.2021. 
          Von dem Space Center Houston war eine neue Anweisung gekommen: Das Team sollte Weltraumtouristen empfangen. Schon bei dem Gedanken verdrehte Alexander innerlich die Augen. Nur weil ein Multi-Millionär mit der sechsköpfigen Crew Weihnachten im All verbringen wollte, war er hier oben, obwohl heute Bescherung war. Shannon hatte alles versucht, um das Space Center zu überzeugen, dass drei Leute für diese Aufgabe ausreichten und die nächsten Astronauten nur wenige Tage später eintreffen würden – erfolglos. Wie gern wäre Alexander zu Hause und würde Emmas blaue Augen vor Freude strahlen sehen, wenn sie ihr neues Fahrrad entdeckte.
          Durch die Gänge, deren vier Wände mit jeglicher Ausrüstung übersät waren, schwebte er weiter zu seiner kleinen Kabine. Mit Schnüren war sein Schlafsack an einer Kabinenwand befestigt. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein Brett, auf dem sein privater Laptop mit einem Gummi eingespannt war. Fotos seiner Familie sowie ein selbstgemaltes Bild seiner Tochter dekorierten seine Kabine. Darauf waren sie drei neben einer Rakete gezeichnet. »Bis zum Mond und zurück« stand in Yvonnes Schrift darüber, darunter hatte Emma in krakeligen Großbuchstaben ihren Namen verewigt. 
          Er griff nach einer Weihnachtsmannfigur, die seiner Tochter gehörte.
          »Zu Weihnachten muss der Weihnachtsmann wieder da sein«, hatte Emma in all dem Ernst, den eine Vierjährige aufbringen konnte, gesagt und seine Frau Yvonne hatte gelacht.
          »Da hörst du es, Schatz. Zur Bescherung bist du wieder da.« Er erinnerte sich an den Abschiedskuss, als wäre es gestern gewesen.
          Alexander steckte die Weihnachtsmannfigur in seinen olivgrünen Seesack, damit sie nicht zerbrach.
          Ein schriller Alarm ertönte – einmal, zweimal, dreimal. Das Signal erstarb. Stille erfüllte die Raumstation, als hätte es das Warnsignal nie gegeben. Sekunden vergingen. 
          Eilig hangelte er sich an den Haltegriffen durch den engen Gang, der die Module verband. An allen vier Wänden des Verbindungsgangs waren verpackte Gegenstände mit grauem Panzertape angeklebt oder mit Spannnetzen befestigt. Es waren Geräte und Materialien, die für Experimente gebraucht wurden.
          Alexander war auf der Suche nach Shannon, um zu erfahren, was der Auslöser des Warnsignals war. Im Training waren Notfälle durchgespielt und besprochen worden. Ein Stromausfall, Feuer, eine Beschädigung der ISS. Im All mussten sie auf alles vorbereitet sein, denn Unterstützung gab es bestenfalls per Video- oder Funkübertragung. Der erste Punkt war immer, den Commander aufzusuchen.
          Durch den Ausgang von Quest schwebte Tomas und kurz kreuzten sich ihre verwirrten Blicke. Der Pole begleitete ihn zum Steuermodul Swesda. Die restlichen drei Astronauten stießen zu ihnen.
          Ihr Weg führte an dem Destiny-Labor vorbei, in dem Alexander vor knapp zwei Wochen Forschungsergebnisse für ein neues Parkinson-Medikament zusammengetragen hatte. Diese Ergebnisse würde er mit zur Erde nehmen. 
          Als sie Shannon wie erwartet im Swesda-Modul antrafen, erklärte sie knapp, dass es nur ein Fehlalarm gewesen war. Ohne eine Antwort abzuwarten, machte sie sich auf den Weg zu den Touristen. Die ISS befand sich seit dreiundzwanzig Jahren im All und Störungen kamen hin und wieder vor. Kurz sah er ihr nach, dann drehte er sich um. Alle gingen wieder ihrer Wege. 
           Im Tranquility-Modul erreichte Alexander sein Ziel: das Laufband. Mit elastischen Gurten schnallte er sich fest. Beim Laufen musste er gegen die Spannung der Bänder ankämpfen. 
           Um den Kopf frei zu bekommen, brauchte er Bewegung. Seine zwei Stunden Sport hatte er heute schon absolviert. Das war ein tägliches Pflichtprogramm, um dem Knochen- und Muskelabbau entgegenzuwirken, der mit jedem Tag in der Schwerelosigkeit fortschritt. Auf der Erde joggte er draußen, wenn ihn etwas beschäftigte, aber das funktionierte im All nicht.
          Seine Gedanken kreisten um das Weihnachtsfest mit seiner Tochter, das er verpasste – er war immer bei ihr gewesen. Sie würde traurig sein, dass er nicht da war. Schließlich hatte er es ihr versprochen.
           Erneut schrillte ein Warnton auf, doch der verstummte nach dem ersten Signal. Er hatte angenommen, dass die Störung mit dem Verstummen des Alarms vor einigen Minuten behoben worden war. 
          Sobald die Weltraumtouristen in ihrem Modul waren, würde Alexander Shannon aufsuchen. Sie sollten mit der Bodenstation Kontakt aufnehmen, doch solche Entscheidungen durfte er nicht allein treffen.

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* und bei allen anderen

üblichen Buchhandlungen

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Seiten: 11

eBook: 1,49 €

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